Was wir von Religionen lernen sollten

In seiner Kolumne in der Süddeutschen Zeitung am Ostersamstag beschreibt Heribert Prantl, wie die Kirchen von der Säkularisierung profitieren können. Noch spannender aber ist für Säkulare die Frage, ob umgekehrt der Säkularismus nicht auch von den Religionen profitieren kann.

Gott ist kein Auslaufmodell, und die Religion ist nicht überholt. Wer die Kirchenaustrittszahlen so interpretiert, der liegt falsch.

Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 8. April 2023

Mit dieser steilen These startet Prantl startet seine Kolumne. Die meisten (alle?) Menschen treten nicht etwa aus der Kirche aus, weil sie über Nacht Atheist geworden sind, sondern aus vielen anderen Gründen. Weil sie in der Kirche nicht mehr das finden, was sie suchen: Schutz, Halt, Trost und Freude. Oder weil sie ganz einfach „ihren Sinn für die transzendente Dimension des Lebens“ verloren haben (mal vorausgesetzt, jeder Mensch hat so einen Sinn …). Oder vielleicht wegen der Missbrauchsskandale. Oder weil sie keine Kirchensteuer mehr zahlen wollen für die Mitgliedschaft in einem für sie irrelevant gewordenen Verein.

Süddeutsche Zeitung, 8. April 2023 (Hinter Bezahlschranke)

Die Sehnsucht nach sinnstiftenden Ritualen

Nicht überraschend ist das für Prantl nicht nur ein „kirchlicher Erdrutsch“, sondern auch ein gesellschaftlicher. Und er vermutet, dem Großteil der Ausgetretenen sei „wohl bewusst, dass sie (die Kirchen) einen Schatz an Lebenszeit, Seelsorge und guten gesellschaftlichen Konventionen bewahren“. Religiöse Rituale seien nun einmal sinnstiftend und so etwas lasse sich nicht einfach neu erfinden. Deshalb sei zu wünschen, dass die Kirchen sich transformierten, damit sie sich der „Sehnsucht nach den Ritualen der Geborgenheit“ weiterhin annehmen können. Denn, so behauptet Prantl ohne es zu beweisen, nur die Kirchen sind in der Lage, diese vermeintliche oder echte Leerstelle zu füllen.

Sicherlich kann man Gemeinschaft auch in der Amnesty-Gruppe finden, und Spiritualität kann man auch beim Yoga erleben. Aber dort fehlt das alles durchdringende, transzendente Prinzip, das die Kirchen das Göttliche nennen.

Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 8. April 2023

Und weil die Säkularisierung nun mal voranschreitet, versucht Prantl, diese als eine Chance für die Kirchen zu begreifen, die Ursachen ihres aktuellen Niedergangs – die Machtsucht der katholischen Kirche und die allzu große Staatsnähe der evangelischen Kirche – zu überwinden. Vielleicht hat er hier durchaus Recht. Vielleicht würden die Kirchen von der Säkularisierung profitieren, in dem sie ihr Profil schärften und sich auf die – wie auch immer gearteten – spirituellen Bedürfnisse der Menschen konzentrierten. Aber das ist ein PAL – ein Problem anderer Leute, wie Douglas Adams es so treffend formulierte.

Säkulare Transzendenz – ein Widerspruch?

Doch Prantls Gedanken führen zu einer für uns als Säkulare viel spannenderen Frage: Inwieweit fehlt den säkularen Organisationen und den Menschen, die sich als nicht gläubig identifizieren, tatsächlich eine Form der Transzendenz? Dabei ist mit Transzendenz nicht den Glauben an etwas Über- oder Außerirdisches gemeint, an ein Leben nach dem Tod oder irgendeine geheimnisvolle Macht jenseits der Erklärbaren. Vielmehr geht es um etwas, das im Sinne des lateinischen Begriffs transcendentia über den Einzelnen hinausgeht, ihn „übersteigt“. Das können persönliche Erlebnisse sein, welche über die normale Wahrnehmung und das alltägliche Erleben hinausgehen. Es können aber auch Werte und Überzeugungen sein, die Menschen als Gemeinschaft zusammenschweißen und die durch Rituale und gemeinsame Erlebnisse manifestiert und gestärkt werden. 

Es gibt eine Sehnsucht nach dem Himmel auf Erden.“

Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 8. April 2023

Auch wenn man Prantls einseitige und unhinterfragte Ansicht, dass es ein Bedürfnis nach Jenseitigkeit bei allen Menschen gibt, nicht teilt, lässt sich hier doch ein Defizit des Säkularismus erkennen: Die säkularen Werte werden von uns emotional vernachlässigt. Unser Grundgesetz, die Menschenrechte, die Erkenntnis durch Wissenschaft – all das bildet die Basis unseres Zusammenlebens und doch gehen wir mit diesen Werten sehr pragmatisch um. Wer weiß schon spontan, wann der Tag der Menschenrechte ist? Säkular bedeutsame Erinnerungstage wie Darwins Geburtstag oder Galileis Todestag kennen nur wenige Eingeweihte. Während in den skandinavischen und baltischen Ländern die Mittsommernacht groß gefeiert wird, sind bei uns Sommer- und Wintersonnenwende nur Daten im Kalender. Hier klafft eine Lücke, es fehlt die emotionale Einbindung.

Werte brauchen Emotionen

Ein eindrucksvolles Beispiel, wie man das macht, war kurz vor Ostern zu beobachten: In diesem Jahr wurde für das Osterfest in der Elisabethkirche in Marburg von den Gemeindemitgliedern ein Passionsteppich gewebt. Aus Stoffresten, die sie mitbrachten entstand ein 37 Meter langer Teppich. Der wurde am Palmsonntag in der Kirche ausgerollt, in Anspielung auf die biblische Erzählung, wonach Menschen ihre Kleider auf der Straße ausgebreitet hätten, als Jesus in die Stadt ritt. So wurde einer unbedeutenden Bibelstelle ein emotionales, persönliches Erlebnis. Das ist brillant.

Warum das so wichtig ist, beschreibt Jonathan Haidt in seinem Buch „The Righteous Mind – Why Good People are Divided by Politics and Religion“ (leider zzt. nur auf Englisch verfügbar). Er zeigt, dass liberale, säkulare Überzeugungen in Bezug auf die verschiedenen Dimensionen moralischer Grundlagen einige Schwächen aufweisen. 

Religions are moral exoskeletons. … When societies lose their grip on individuals, allowing all to do as they please, the result is often a decrease in happiness … Societies that forgo the exoskeleton of religion should reflect carefully on what will happen to them over several generations.

Jonathan Haidt, The Righteous Mind

Die Betonung des Individuellen in modernen westlichen Gesellschaften geht auf Kosten der Gruppenwerte, anders als bei Religionen, die grundsätzlich ein Teamsport sind. Die emotionalen Bedürfnisse der Menschen nach Werten, die sie als Individuen transzendieren, werden von vielen oft sehr rational denkenden Atheisten ignoriert. Ich denke, hier können wir uns von den Religionen noch einiges abgucken. Das ist die große Aufgabe der Aufklärung 2.0.

Quellen

Jonathan Haidt – The Righteous Mind
Why Good People are Divided by Politics and Religion

Mittelhessen: Mitweben am Passionsteppich