Haben Atheist:innen eine Moral?

Eines der am häufigsten vorgebrachten Argumente, warum die Gesellschaft den Glauben an Gott – und damit auch die Kirchen – braucht, ist, dass es ohne Glauben keine Moral gäbe. Die Bibel – oder welcher Kanon von den Gläubigen jeweils als gültig betrachtet wird – sagt, wo’s lang geht und mensch folgt. Umgekehrt gilt: Ohne klare Anweisung, macht mensch eben, was er oder sie will. Oder wie Dostojewski es in „Die Brüder Karamasow“ auf den Punkt brachte: „Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt“. 

Gewissen ohne Gott ist etwas Entsetzliches. Es kann sich bis zur größten Unsittlichkeit verirren.

Fjodor Dostojewski

Auch wenn heutzutage kaum noch jemand das so unverblümt formuliert, Vertreter:innen der Kirchen sitzen in Ethikräten noch und nöcher, nicht zuletzt weil ihnen noch immer weitestgehend unhinterfragt das Moral-Monopol zugesprochen wird. Aber mal abgesehen davon, dass es nur ein mäßig gutes Licht auf jemanden wirft, wenn man nur deshalb nett zu anderen ist, weil man sonst in die Hölle kommt, ist die Bibel generell nicht unbedingt erste Wahl, wenn’s um Richtlinien für moralisches Verhalten geht. 

Die zunehmende Gottlosigkeit ist mitverantwortlich für die derzeitigen globalen Krisen!

Vaclav Havel, tschechischer Schriftsteller und Politiker

Wer die Bibel durchflöht nach moralstützenden Zitaten trifft dabei auch auf jede Menge Anweisungen, die eher in den Zuständigkeitsbereich der Kriminalistik gehören. Was letztendlich auch kein Wunder ist, denn der Mensch ist zum Guten ebenso fähig wie zum Bösen und so findet sich beides in den religiösen Büchern. Wer also die Bibel als Unterbau seiner Moral zitiert, tut das, weil er dort primär auf die Stellen anspringt, die seine bereits vorhandenen moralischen Werte stützen. Das nennt man „confirmation bias“: Man nimmt unbewusst gesteuert nur die Aussagen wahr, welche die eigene Meinung stützen, und blendet alles andere aus. 

Aber zurück zu der Frage, ob und wie moralisch Atheist:innen sind. Der Psychologe Tomas Stahl von der University of Chicago hat genau diese Fragestellung empirisch untersucht und ist zu interessanten Erkenntnissen gekommen. Um es kurz zu machen: Ja, Atheist:innen haben einen klaren moralischen Kompass, aber der funktioniert ein bisschen anders als bei Gläubigen, denn er richtet sich weniger auf Gruppen und mehr auf Individuen. Woher das kommt und wie sich das auswirkt, das gibt es hier zu lesen: 

Der moralische Kompass der Atheisten