Prantl predigt, mal wieder. Eine Replik.

Wer die Süddeutsche liest, kennt ihn: Heribert Prantl, lange Jahre dort Leiter des Ressorts Innenpolitik, dann Leiter des Ressorts Meinung und acht Jahre lang Mitglied der Chefredaktion, heute „nur“ noch Autor und Kommentator. Ein journalistisches Schwergewicht mit einer ausgeprägten sozialen Ader und mit vielen Verdiensten, keine Frage. Doch wenn es um Religion (vor allem die eigene) und die Kirchen geht, ist der sonst so kritische Geist erstaunlich milde. So auch in seinem Kommentar von diesem Samstag. Unter dem Titel „Das Verlorene“ erklärt er uns, „warum es Staat und Gesellschaft gar nicht gut täte, wenn die Kirchen verschwinden würden“ (zur Online-Version, leider hinter Bezahlschranke).

Der Vollständige Artikel aus der SZ vom 11. Juni 2022

Prantl befürchtet, dass mit der aktuellen Krise der Kirchen auch das verschwindet, was an den Kirchen seiner Meinung nach unverzichtbar ist: „die Kraft von Kirche als Wertegemeinschaft und orientierender Instanz außerhalb des Staates“. Säkular Versierte ahnen, was als Nächstes kommt, und da zitiert er es auch schon: das Böckenförde Diktum. Dieser vor fast 60 Jahren vom Rechtsgelehrten Wolfgang Böckenförde formulierte Grundsatz lautet: „Der freiheitlich, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Will sagen, der Staat selbst hat keine Werte, sondern ist auf von anderen gelebte und gelehrte Werte angewiesen.

Natürlich ist da für Prantl die Kirche die erste Wahl. Sonst will ihm als Wertequelle einfach niemand einfallen. Statt dessen fragt er rhetorisch: „Soll es Leuten wie Elon Musk, Jeff Bezos und Bill Gates überlassen werden, globale Debatten zu prägen? Sollen es allein die großen privaten Thinktanks (…) sein, die die gesellschaftliche Diskurse prägen?“ Und gibt die sich gleich selbst die Antwort: „In Zeiten entgleisender Modernisierung könnten die Einsichten wichtig sein, die die Religion bietet – weil in ihr die Sehnsucht nach dem ganz Anderen aufbewahrt wird und auch die Hoffnung, dass das Unrecht nicht das letzte Wort behalten möge.“ Aber nicht allein die Werte und der Glaube an irgendwas Transzendentes sind nötig, sondern auch die Institutionen, wie die Kirchen, die diese bewahren, denn „Humanität ist nicht angeboren, individueller Glaube ist flüchtig“. Und er schließt mit den Worten: „(Werte) brauchen Pflege, Aufführung, Zelebration und stetige orientierende Diskussion. Sie brauchen daher auch die Kirchen“. 

Soll es Leuten wie Elon Musk, Jeff Bezos und Bill Gates überlassen werden, globale Debatten zu prägen?

Diese Argumentation hinkt allerdings ganz massiv, denn sie setzt voraus, dass die Werte, welche die Kirchen vorgeben, tatsächlich die Werte sind, nach denen wir leben möchten. Prantl stellt, wenn es um Religion geht, gern Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Solidarität in den Vordergrund. Das sind zweifelsohne wichtige Werte, die sich auch in vielen Religionen finden. Doch eine andere Tatsache blendet er komplett aus: Religionsgemeinschaften – auch die christlichen Kirchen – sind klassische In-Group-Out-Group-Konstrukte. Sie unterscheiden scharf zwischen denen, die dazugehören und denen, die es nicht tun. Wir, die den rechten Glauben haben, und Ihr, die anderen, die Ungläubigen, Ketzerinnen und Blasphemiker, die wahlweise abschätzig betrachtet, dringend bekehrt oder direkt in die Hölle geschickt werden müssen. Ein Blick in die Geschichtsbücher oder die aktuellen Nachrichten genügt, um festzustellen: Religionen haben sich bislang vor allem dadurch hervorgetan, Frieden (zu ihren Bedingungen) zu predigen, aber ansonsten eher Gewalt und Krieg zu verursachen. Der aktuelle Schulterschluss der abrahamitischen Religionen fällt nur vordergründig aus dem Rahmen, denn nun sind es die Gottlosen und sonstige Andersgläubige, die ausgeschlossen werden aus der kuscheligen Runde der Religiösen.

Dazu kommt, dass Religionen Werte und Verhaltensweisen propagieren – man denke an die katholische Sexualmoral oder das islamische Frauenbild -, die mit unserem Grundgesetz absolut unvereinbar sind. Noch immer wird die Hälfte der Menschheit von einigen der großen Religionen als minderwertig angesehen und Gewalt gegen Andersgläubige als grundsätzlich ok betrachtet. Hier scheint mir Prantl doch ein sehr verklärendes Wunschbild der Religionen zu pflegen, die negativen Auswirkungen religiöser Leitbilder erwähnt er jedenfalls nicht.

Humanität ist nicht angeboren, individueller Glaube ist flüchtig.

Der gravierendste Einwand gegen Prantls Position aber ist: Auf Transzendenz basierende Werte entziehen sich einer echten gesellschaftlichen Diskussion. Anders gesagt: Wenn mein Gott mir etwas befiehlt, ist mir das Grundgesetz schnuppe. Über gottgebene Werte können Menschen nicht streiten, denn deren letzte Begründung liegt im Jenseitigen und ist daher nicht verhandelbar: Entweder ist etwas so, weil Gott es so will, oder eben nicht. Die Frau wurde aus Adams Rippe geschaffen, also ist sie zweitklassig und ihm untertan. In einem säkularen Staat aber gilt: Die Werte, auf die wir uns als Gemeinschaft berufen, müssen wir untereinander aushandeln, immer wieder aufs Neue. Und wenn wir einen Wert für nicht verhandelbar halten, dann sollten wir das gut begründen – hier im Diesseits, ohne Verweis auf irgendeine Transzendenz.

Und schließlich möchte ich Prantl auch in seiner Annahme, dass Humanität dem Menschen nicht angeboren sei, widersprechen: Empathie und Altruismus sind sehr wohl im Menschen von Geburt aus angelegt, sonst hätte er sich als Spezies gar nicht entwickeln können. Aber dasselbe gilt eben auch für Egoismus und die Neigung, Menschen, die uns nicht ähnlich sind, abzulehnen oder zu fürchten. Und wie bei von Menschen geschaffenen Werken anzunehmen findet sich genau dieses Konglomerat widersprüchlicher Ansichten auch in den heiligen Büchern verschiedener Religionen wieder. Da gibt es viele gute, wertvolle Ansichten und ebenso viel Grauenhaftes, Abschreckendes. So wie der Mensch eben, der zum Guten fähig ist und zum Bösen.

Deshalb – und in diesem Punkt gebe ich Prantl recht – müssen die positiven, humanitären Anlagen des Menschen gepflegt und gefördert werden. Dafür die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, ist eine wichtige staatliche Aufgabe. Zum Beispiel in Form eines konfessionsübergreifenden Ethikunterrichts an Stelle des aus dem vorigen Jahrhundert stammenden konfessionsgebundenen und damit spaltenden aktuellen Religionsunterrichts, der noch immer im Grundgesetz verankert ist. Dabei müssen auch wir Säkulare uns stärker einbringen in die Diskussion um Werte und so zeigen, dass wir die Kirchen eben nicht als Hüterinnen der Werte brauchen.