Offener Brief an den Bundespräsidenten

Am 14. Mai hielt Frank-Walter Steinmeier eine Rede zur Eröffnung des dritten ökumenischen Kirchentags in Frankfurt. Er spricht dort zu seinen christlichen „Brüdern und Schwestern“, beklagt sich über die Verdrängung der Kirchen aus der Mitte der Gesellschaft durch die Säkularisierung und betont immer wieder, dass „wir“ engagierte Christinnen und Christen brauchen. Grund genug für uns, ihm – mal wieder – die Sichtweise nicht-religiöser Menschen nahe zu bringen.

Video und Transkript der Rede von Frank-Walter Steinmeiner

Kommentar zur Rede von der Giordano-Bruno Stiftung auf der Website des hpd.

Und hier nun unser Brief:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

mit großer Verwunderung habe ich Ihre Rede zur Eröffnung des dritten ökumenischen Kirchentags in Frankfurt gelesen und ich frage mich, wie Sie diese Rede wohl mit Ihrem Amt vereinbaren. Als höchster Vertreter der Bundesrepublik Deutschland sollten Sie der Repräsentant aller Bürger:innen sein und sich der weltanschaulichen Neutralität des Staates verpflichtet fühlen. Ihr persönlicher Glaube bleibt Ihnen selbstverständlich unbenommen, aber sich so unverhohlen mit dem Anliegen der Kirchen gemein zu machen hinterlässt bei religionsfreien Menschen einen bitteren Nachgeschmack. Zumal wenn Sie offen Stellung nehmen gegen den Prozess der Säkularisierung, der „die Kirchen aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt“. 

Hier zu zwei Anmerkungen: Zum einen verdrängt der Prozess der Säkularisierung die Kirchen nicht, das würde ein aktives Handeln voraussetzen. Richtig ist, dass die Kirchen ihre überkommene Rolle als Hüter von Werten verlieren, weil kirchliche Wertvorstellungen für immer mehr Menschen immer weniger relevant sind. Die Achtung vor den Menschen und vor der Natur ist nicht an den Glauben an eine wie auch immer geartete Transzendenz gekoppelt. Und zum anderen: Was genau ist an dieser „Verdrängung“ denn so schlimm? Immerhin verdanken wir der Säkularisierung Werte wie Menschenrechte, Gleichberechtigung und Religionsfreiheit. Diese Leuchtfeuer unserer Demokratie wurden – wie Sie sicher wissen – gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen erkämpft.

In Ihrer Rede beklagen Sie die zunehmenden Spaltungstendenzen innerhalb unserer Gesellschaft. Daran sind die Kirchen nicht ganz unschuldig. Ihre Wertvorstellungen entsprechen immer weniger dem Empfinden der Menschen, bestimmen aber oft den politischen Diskurs. Diese Entfremdung spiegelt sich wider in den stetig sinkenden Zahlen der Kirchenmitglieder. Vermutlich schon in zwei Jahren werden weniger als 50 Prozent der Menschen in Deutschland Mitglied in einer der beiden christlichen Kirchen sein. Anders als vor 50 Jahren leben wir heute nicht mehr in einer eindimensional religiös geprägten Gesellschaft. Wer nach einem Wertefundament sucht, wird auch woanders fündig. Es gibt heute eine Pluralität von Meinungen, das muss nichts Schlechtes sein. Entscheidend ist, wie wir miteinander umgehen. Nur wenn einer der Gesprächspartner meint, im Besitz der ewig gültigen Wahrheit zu sein, ist das Gespräch schnell beendet. 

Nun behaupten sie in Ihrer Rede, „wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen“. Ich frage mich: Von welchem „wir“ sprechen Sie da? Wohl kaum von der bundesdeutschen Gesellschaft, denn ganz gleich, ob es um Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe, Beschneidung oder Religionsunterricht geht, die Gesellschaft ist in der Debatte längst deutlich weiter als die Kirchen. Auch hier zeigt sich wieder: Politische Entscheidungen mit transzendenten Glaubensvorstellungen zu begründen, taugt in einer zunehmend diversen Gesellschaft nicht als Basis für einen Konsens und ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Das „vernünftige Argumentieren“ und die „gemeinsame Wahrheitssuche“, die Sie sich wünschen, müssen ohne religiöse Scheuklappen stattfinden, wenn sie zu einem tragfähigen Konsens führen sollen. Was wir wirklich brauchen, sind engagierte Staatsbürger:innen, die ohne Wenn und Aber auf dem Boden unserer Verfassung stehen und die nicht, wo immer es ihnen passt, ihren Glauben über das Grundgesetz stellen. 

Sie sagen, Sie möchten „Brücken bauen zu unseren Nachbarn anderen Glaubens“ und „Feindbildern entschieden entgegentreten“. Doch die große Zahl religionsfreier Menschen – mittlerweile rund 39 Prozent – wird von Ihnen wieder einmal konsequent ignoriert. Daher ein Vorschlag: Wie wäre es zur Abwechslung mal mit einem Dialog mit religionsfreien Bürger:innen, zum Beispiel beim nächsten Humanistentag im Juni 2021 in Nürnberg?

Wir sind gespannt auf die Antwort …