Gottlos mit Bahncard

Wenn man als journalistisch arbeitender Mensch mal seine Meinung zu seinem persönlichen Lieblingsthema loswerden möchte, sucht man sich gern einen aktuellen Anlass als Aufhänger, und sei dieser auch noch so abstrus. So vergleicht Anna Clauß im aktuellen „Spiegel“ mit Verweis auf den Bahnstreik sowie eine Untersuchung der Evangelischen Kirche das Wirken des christlichen Gottes mit der Pünktlichkeit der Deutschen Bahn. Unter dem raffinierten Titel „Höhere Gewalt“ rechtfertigt sie, argumentativ etwas irrlichternd, ihre eigene, gegen den Trend andauernde Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche damit, dass das ja auch nicht absurder sei als der Erwerb einer Bahncard:

„Ich glaube, mit einer Kirchenmitgliedschaft hat man weniger zu verlieren als mit einer Bahncard.“

Anna Clauß, DER SPIEGELvom 18.11.2023

Steile These. Aber folgen wir doch der Autorin auf ihrem Weg von der Bahn zur christlichen Botschaft. Zunächst ist sie betroffen, dass die Zahl der Konfessionslosen weiter zunimmt. Diese „unfrohe Botschaft“ überrascht sie jedoch nicht „angesichts zahlreicher Missbrauchsskandale“, ganz so als gäbe es keine anderen Gründe, aus den christlichen Vereinen auszutreten. Sie selbst aber hält der Kirche weiterhin die Treue, weil sie daran glaubt, dass „stille Gebete gegen Frust besser helfen als etwa Hatespeech im Internet oder Protestwahl an der Urne“. Nee, ist klar, andere Alternativen gibt es da auch wirklich nicht, als in Social-Media-Kanälen öffentlich die Krawallsau rauszulassen oder heimlich AfD zu wählen. Wenn die GDL zuschlägt, kommt man schon mal in Versuchung, wie sie selbst zugibt:

„Andererseits stand auch ich laut fluchend und nicht still betend am Bahngleis, als am Donnerstag die S-Bahn ausfiel.“

So ganz hat sich Frau Clauß also auch nicht im Griff, aber das macht sie ja irgendwie auch angenehm menschlich. Ganz nebenbei erwähnt sie in diesem Zusammenhang noch, dass die Synode der Evangelischen Kirche in Ulm ihre Beschlussfassung vertagen musste wegen der streikbedingten frühzeitigen Abreise der Teilnehmer. Da fragt man sich als Atheist: Vielleicht war der Streik aber auch ein Zeichen höherer Mächte, die sich der GDL bedienten, um ihren Unmut über ihre Vertretung auf Erden kund zu tun? Leider wird dieser faszinierende Gedankengang von ihr nicht weiter verfolgt. Statt dessen wird sie persönlich:

„Ich sehne mich nach einer Gemeinde, die mehr ist als die Gemeinschaft anonymer Pendler im überfüllten S-Bahn-Waggon Richtung Innenstadt.“

Auf diesen emotionalen Aufschrei folgt das erschreckende Bekenntnis, dass sie schon lange keinen Gottesdienst mehr besucht hat und auch nicht „abends kniend am Bettrand“ betet. Das hört die höhere Macht möglicherweise auch nicht so gern. Immerhin, Frau Clauß wäre zumindest gern Mitglied in einem Kirchenchor. Vielleicht sollte ihr jemand mal sagen, dass es auch jenseits kirchlicher Vereinigungen nette Menschen gibt, die sich regelmäßig treffen, sich gesellschaftlich engagieren, womöglich sogar gemeinsam singen? Sie schließt ihre Betrachtungen mit der – vermutlich rhetorisch gemeinten – Frage:

„Was ist wahrscheinlicher: die Existenz Gottes oder ein pünktlicher Zug der Deutschen Bahn?“

Nun lässt sich diese Frage wider Erwarten tatsächlich relativ einfach beantworten: Laut Auskunft der Bahn waren in diesem Jahr rund 65 Prozent der Züge pünktlich. Wenn man die Tricks abzieht, die die Bahn verwendet, um Züge, die brutal verspätet sind, aus der Statistik zu nehmen, dürften das vermutlich auf irgendwas um die 60 Prozent hinauslaufen. Ist nicht doll, aber immer noch deutlich wahrscheinlicher als die Existenz eines höheren Wesens. Von daher setze ich nach wie vor auf Bahncard und Deutschland-Ticket. 

Mein Zug von Hamburg-Altona nach Frankfurt war übrigens heute pünktlich. Zufall oder höhere Fügung?